Stromnetze waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine streng nationale Angelegenheit: Mit unzähligen verschiedenen Netzsystemen und Netzfrequenzen herrschte in Europa ein Flickenteppich aus Insellösungen, der einen grenzüberschreitenden Stromaustausch unmöglich machte. Denn Netze mit unterschiedlicher Infrastruktur, Spannungsebene und Frequenz lassen sich nicht einfach aneinanderkoppeln. Netz, Spannung und Frequenz müssen identisch sein, um eine reibungslose Zusammenarbeit zu gewährleisten – der Fachausdruck hierfür ist Synchronbetrieb.
Zur Ermöglichung des europäischen Synchronbetriebs gründete sich bereits 1951 eine zentraleuropäische Organisation zur Koordination des Verbundnetzraumes der Länder Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich und Schweiz. Die Union pour la coordination de la production et du transport de l’électricité (UCPTE) wurde 1987 um Griechenland, Jugoslawien, Spanien und Portugal erweitert, 1995 kamen Tschechien, die Slowakei, Polen und Ungarn dazu. 1999 wurde die UCPTE aufgrund der Liberalisierung des europäischen Strommarktes in die Nachfolgeorganisation UCTE überführt.
Die Länder der UCPTE bzw. UCTE trafen klare Absprachen über ihre Netzgestaltung: Grenzüberschreitend übertragen sie elektrische Energie als Dreiphasenwechselstrom über Hochspannungsleitungen mit 220 bis 440 Kilovolt und einer Netzfrequenz von 50 Hertz; eine neuere Entwicklung sind Hochspannungs-Gleichstromübertragungsleitungen (HGÜ-Leitungen).
Das so geschaffene Europäische Verbundsystem (EV) ermöglicht den grenzüberschreitenden Austausch von Strommengen und kann so, neben den Möglichkeiten zu Stromimporten und Stromexporten, die Versorgungssicherheit und Stabilität jedes einzelnen Mitgliedslandes sichern.
Um Strom zwischen den Übertragungsnetzen zweier Länder auszutauschen, müssen diese Länder sogenannte Grenzkuppelstellen einrichten. Diese sind, im Falle von Dreiphasenwechselstrom-Hochspannungsleitungen, optisch von normalen Hochspannungsleitungen nicht zu unterscheiden – nur dass sie eben die Grenzen zweier Länder überschreiten und sich die Form und Bauart der Masten mitunter hinter der Grenzlinie ändert. Zum Transport von Strom in HGÜ-Leitungen hingegen müssen, da der Strom zunächst zum Transport im Kabel gleichgerichtet und zur Einspeisung ins Netz wiederum wechselgerichtet werden muss, spezielle Einrichtungen gebaut werden. Diese sind jedoch auch bei HGÜ-Leitungen nötig, die nicht über Landesgrenzen gehen.
Grenzkuppelstellen können als Knotenpunkte des kontinentaleuropäischen Verbundsystems (EV) angesehen werden und sollen einen möglichst reibungslosen Grenzverkehr des Stromes von einem Land ins andere ermöglichen.
Der Ausbau bestehender Kapazitäten und der Aufbau neuer Grenzkuppelstellen ist aber finanziell und administrativ sehr aufwändig. Es müssen neue Hoch- und Höchstspannungsleitungen in teils dicht besiedelte Gebiete gezogen werden, auch müssen sich die Nachbarländer über die Kostenübernahmen einigen. Die Anstrengungen für ein vollintegriertes Stromnetz werden zentral durch die TEN-E-Verordnung (Trans-European energy networks policy) der Europäischen Kommission koordiniert, welche auch Projekte über die Mitgliedsstaaten der UCTE hinaus, beispielsweise mit Großbritannien und den baltischen Staaten, in den Blick nimmt.
Dennoch gibt es zu einem Ausbau der grenzüberschreitenden Stromtransportkapazitäten keine wirkliche Alternative. Denn wie an einem Autobahngrenzübergang, an dem sich zu Stoßzeiten die Fahrzeuge in langen Schlangen ansammeln, ist die Kapazität der Grenzkuppelstellen begrenzt – der Strom kann aufgrund der fehlenden Transportkapazität nicht in der Menge fließen, die tatsächlich aufgrund vertraglicher Vereinbarungen geliefert werden müsste.
Wird jedoch mehr Strom an der Börse verkauft als tatsächlich geliefert werden kann, kommt es zu mehreren ungünstigen Effekten. Zum einen ist hier eine Marktverzerrung zu nennen: Durch die Differenz zwischen kontrahiertem und tatsächlich physikalisch geliefertem Strom müssen die Fehlmengen ausgeglichen werden.
Ein konkretes netztechnisches Problem sind Loopflows (Ringschlüsse). Auch hier lässt sich die Metapher des Autobahngrenzübergangs verwenden: Ist dieser überlastet, weichen die Fahrzeuge auf die umliegenden Landstraßen aus und verstopfen die Ortsdurchfahrten. Ganz ähnlich sucht sich auch der Strom seinen Weg nach dem Prinzip des geringsten Widerstandes (Kirchhoffsche Gesetze) und nimmt die Netzkapazität anderer Länder in Anspruch. Dies geschah beispielsweise bis 2018 zwischen Deutschland und Österreich: Weil der Strom dort nicht die zu knapp dimensionierten Grenzkuppelstellen passieren konnte, wich er auf die Nachbarländer Polen und Tschechien aus und verursachte dort ärgerliche Kosten – ein wesentlicher Grund für die schließlich erfolgte Trennung der gemeinsamen Strompreiszone zwischen Deutschland und Österreich.
Auch bei der saisonalen Auslastung der Grenzkuppelstellen lässt sich das Bild des Autobahngrenzübergangs anwenden. Zur Urlaubszeit herrscht Riesenandrang, im wenig urlauberfreundlichen November kehrt Ruhe ein. An den Grenzkuppelstellen ist es ganz ähnlich: Hier bestimmt sich der „Reisebedarf“ zusätzlich durch die nationale Energieinfrastruktur, das Volumen des grenzüberschreitenden Stromhandels und nicht zuletzt durch das Wetter.
So wirken sich meteorologische Faktoren direkt auf den Grenzverkehr aus – beispielsweise an kalten Wintertagen an den Grenzkuppelstellen von und nach Frankreich. Das Land setzt vornehmlich auf Atomenergie und heizt Häuser und Wohnungen mit Strom. Dies treibt die AKWs im Winter an die Leistungsgrenze – Frankreich muss verstärkt Strom aus den Nachbarländern importieren.
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Auch die Alpenländer haben einen saisonal stark schwankenden Strombedarf, der sich auf den grenzüberschreitenden Stromaustausch auswirkt: Während der Schneeschmelze im Frühjahr und Frühsommer exportieren Österreich und die Schweiz Strom ins übrige Europa, in den Wintermonaten importieren die Länder der Alpenregion Strom. Im Sommer hat sich zwischen dem sogenannten Solargürtel Baden-Württembergs und Bayerns und den Alpenländern ein regelmäßiges Wechselspiel auf Tagesebene entwickelt: Während an einem Sonnentag tagsüber Strom aus den deutschen Solarpaneelen in die österreichischen und schweizerischen Netze fließt, liefern diese in der Nacht Strom aus Wasserkraft in die lichtlosen Solarregionen.
Da sich in absehbarer Zeit am Problem der zu geringen Kapazitäten der Grenzkuppelstellen nur wenig ändern wird, sind die europäischen Staaten des Netzverbundes zu einer möglichst effizienten Nutzung der vorhandenen Kapazitäten angehalten. Dies findet derzeit vor allem im sogenannten zentraleuropäischen Market Coupling (CWE Market Coupling) statt, das die Übertragungskapazitäten zwischen zwei Märkten durch Kooperation zwischen den nationalen Stromhandelsplätzen und den ÜNB optimal ausnutzt.
Dieses PCR (Price Coupling of Regions) genannte System ermöglicht es 19 europäischen Ländern, ihre Märkte über Verbindungsstellen miteinander zu koppeln – fehlenden Transportkapazitäten und lokalen Netzbesonderheiten wird dabei Rechnung getragen. Der Austausch zwischen den Strommärkten der Mitgliedsstaaten erfolgt dabei automatisiert zwischen den Strombörsen, die in einem koordinierten Verfahren die optimale Nutzung der Übertragungskapazitäten errechnen und so dazu beitragen, die Strompreise in den europäischen Ländern immer weiter anzugleichen.
Unterstützend zum PCR wurden die lastflussbasierte Marktkopplung (Flow based market coupling, FBMC) und insbesondere das XBID-System für den Intraday-Handel entwickelt. Mit letzterem ist seit dem 12. Juni 2018 der grenzüberschreitende, untertägige Handel zwischen Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Lettland, Litauen, Norwegen, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien möglich. Durch die zunehmende Harmonisierung europäischer Energiemärkte wird verstärkt auf nationaler Ebene Flexibilität angereizt, welche für grenzüberschreitenden Handel genutzt werden kann.
Europaweit sind Großprojekte im Bau, die einen Austausch von Strom auch über das Meer oder Gebirgsregionen hinweg ermöglichen sollen. So ist unlängst das Unterseekabel „Nemo Link“ zwischen Belgien und Großbritannien in Betrieb gegangen, welches 1000 MW Leistung via HGÜ (Hochspannungs-Gleichstromübertragung) zwischen den britischen Inseln und Kontinentaleuropa transportiert. Eine gleichartige Verbindung besteht bereits mit den Niederlanden, zwischen Großbritannien und Frankreich können sogar 2000 MW per Seekabel ausgetauscht werden.
Die derzeitigen Fortschritte im Ausbau der Grenzkuppelstellenkapazitäten beobachtet und fördert die Europäische Kommission, wie bereits beschrieben, im Rahmen der TEN-E-Verordnung. Laut eines Berichts der Kommission wurden für den Elektrizitätssektor bis Ende 2018 22 Projekte fertiggestellt, 31 werden bis 2020 fertiggestellt sein, 106 Projekte stehen auf der langen Liste.
Signifikante Projekte sind hier die fertiggestellten HGÜ-Projekte „Nordbalt“ zwischen Litauen und Schweden (700 MW) sowie der Litpol-Link zwischen Litauen und Polen (500 MW), der die energiewirtschaftliche Isolation der baltischen Staaten beendete.
Eine HGÜ-Trasse zwischen Frankreich und Spanien (2000 MW) durch die Pyrenäen ist bereits seit 2014 in Betrieb, die „Biscay-Bay-Line“ durch den Golf von Biskaya zwischen Cubnezais in Frankreich und Gatika in Spanien soll zusätzliche 5000 MW Kapazität bereitstellen.
Regional optimiertes Verbindungssystem zwischen den Nordsee-Anrhainerstaaten. Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Deutschland sollen so mit den Offshore-Kapazitäten in der zentralen Nordsee sowie der deutschen Bucht verbunden werden.
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