Alle reden von der Transformation des Energiesystems. Aber was genau schließt dieser Wandel alles mit ein?
Klar, weg von Kohle, Atomkraft und Erdöl. Irgendwann auch von Erdgas. Hin zu Photovoltaik, Windkraft, Bioenergie und Wasserkraft. Aber was für Effekte hat der Wandel in der Energieerzeugung über den reinen Austausch von Energieträgern und darauf basierenden Geschäftsmodellen hinaus? Was wird sonst noch transformiert? Eine sicherlich unvollständige (und übrigens in der Reihenfolge der aufgezählten Gedanken zufällige) Liste, aber eben auch ein erster Versuch, sich einen Überblick zu verschaffen:
In Deutschland waren 1990 rund 1000 Stromproduzenten am Netz. Heute sind es rund 1,8 Millionen. Auf einen Stromproduzenten im Jahr 1990 kommen also 1800 im Jahr 2019. Stellen Sie sich vor, Sie hätten 1990 eine Zutat für Ihr Lieblingsgericht gebraucht, heute müssten Sie beim Kochen 1800 Zutaten mischen. Wie kann es dann aber sein, dass ihr Lieblingsgericht heute trotzdem jeden Tag gelingt, äh sorry, dass der Strom immer noch jeden Tag aus der Steckdose fließt? Dafür gibt es natürlich sehr viele Gründe, aber nehmen wir mal einen heraus: Digitalisierung. Im Gegensatz zu 1990 verfügen unsere Gesellschaften über eine wahnsinnige Rechenkraft. Und über die Möglichkeit, Daten in Echtzeit für geringes Geld zu auszutauschen. Damit lassen sich auch Millionen von Kraftwerken in einem dezentralen Stromsystem koordinieren. Und das durchaus erfolgreich: Der SAIDI-Index, der die durchschnittliche Dauer des Stromausfalls in Haushalten bemisst, sinkt (!) in Deutschland seit Jahren.
Ein Kohlekraftwerk gleicht einem Atomkraftwerk oder einem Gaskraftwerk in seinem Erzeugungsprofil eher, als eine Windkraftanlage einer Photovoltaikanlage gleicht. Die Netzbetreiber sehen sich also heute nicht nur mit einer höheren Anzahl, sondern auch mit einer höheren Unterschiedlichkeit der Erzeugungsanlagen konfrontiert. Auch hier nutzen wir digitale Technologien, um zumindest zuverlässige Einspeiseprognosen aus den diversen Quellen zu erhalten. Zudem sind die verschiedenen Energieträger der Erneuerbaren sehr unterschiedlich in ihrer Kapazität – von einer 4-kW-Photovoltaik-Dachanlage zum 400-MW-Offshore-Windpark. Auch speisen manche Erneuerbaren, insbesondere die Photovoltaik, auf der Verteilnetzebene ein – hier waren bislang nur Verbraucher zu finden. Ganz zu schweigen von E-Auto-Batterien, die künftig auch genutzt werden sollen, um Reserven für das Stromnetz zu liefern – ebenfalls aus der Verteilnetzebene. Dies alles ändert die Anforderungen an die Struktur des Stromnetzes radikal.
Kohlenstoffbasierte Energiesysteme leben von kontinuierlicher Extraktion und ständigem Konsum des Energieträgers. Das wandelt sich durch den Einsatz regenerativer Energieerzeuger. Wer es schafft, in seinem Belieferungsraum die Pluralität von Erzeugung und Besitz, von verschiedenen Technologien und verschiedenen Kapazitäten sicher zu managen – durch den Aufbau von Smart Grids, von Interkonnektoren, von intelligenten Abrechnungsautomatiken und vielem mehr – hat einen entscheidenden Vorteil. Denn nicht mehr der Bagger ist gefragt, nicht der Bohrer, nicht die Turbine im Großkraftwerk, sondern der Funk- oder Strommast an der richtigen Stelle, die kluge Verteilnetzstation, der zuverlässige Algorithmus.
Strom aus Photovoltaik und Windkraft ist zwar in immer mehr Regionen der Welt konkurrenzlos günstig – aber eben auch fluktuierend. Mal scheint die Sonne nicht, mal weht der Wind nicht. Mal ist sogar zu viel Strom im Netz. Die Technologien, um diese Schwankungen aufzufangen, sind bereits da, aber natürlich noch nicht flächendeckend ausgebaut. Warum auch? Noch ist fast nirgendwo der Anteil der Erneuerbaren in einem Land höher als 50 Prozent, das Problem stellt sich also noch nicht mit letzter Konsequenz, da die bisherigen Flexibilitätsoptionen noch ausreichen. Wichtiger ist daher die Transformation im Kopf der Handelnden: Die Idee, dass grundlastfähige, aber für die Spitzenlast ungeeignete Großkraftwerke einem mehr oder weniger konstanten Verbrauch hinterherfahren, ist obsolet. Zukünftig organisieren sich im Tagesverlauf alle anderen Akteure im Stromsystem um die günstigsten – und wechselhaftesten – Technologien Photovoltaik und Wind herum. Ein heliozentrisches Weltbild hält damit nun endlich auch in der Energieversorgung Einzug – nachdem insbesondere die Montanindustrie jahrzehntelang dachte, dass sich die Stromwelt nur um Kohle, Öl und Gas dreht.
Daraus folgt auch: Manche Verbraucher werden von passiven Stromabnehmern zu aktiven Elementen im Stromsystem. Sie verbrauchen möglichst dann mehr Strom, wenn er im Überfluss vorhanden ist und sie verschieben ihren Stromverbrauch in spätere Zeiten, wenn zu wenig Strom im Netz ist. Heute geschieht dies bereits in Ansätzen mit industriellen und gewerblichen Verbrauchern, in einem intelligenten Verteilnetz wird dies aber auch mit privaten Stromverbrauchern möglich sein. Dafür noch nötig: Ein Datenaustausch in kürzeren Abständen zwischen Verbrauchern, Produzenten, Netzbetreibern und Strommärkten, um Preis- und Netzsignale zum Verbraucher zu bekommen sowie eine Regulierung, die einen flexiblen Stromverbrauch belohnt und nicht bestraft.
Wenn es eine Lehre aus den letzten zweihundert Jahren der Technikgeschichte gibt, so sind es diese zwei: Zum einen hat die Industrialisierung und die damit einhergehende Verfügbarmachung von Kraft, und die Entlastung von manueller Arbeit, uns Menschen das Leben exorbitant leichter gemacht und zu technologischen und medizinischen Entwicklungen geführt, die eigentlich nur den Schluss zulassen: Zu keiner Zeit in der Geschichte ging es den Menschen auf der Erde besser als heute. Zum anderen beginnen wir zu verstehen, dass diese Verfügbarmachung von unbegrenzter Kraft dermaßen zu Lasten des Planeten geht, dass wohl zu keiner Zeit seit der Steinzeit das Überleben der Menschheit in ihrer Gänze so bedroht war wie heute. Ein Dilemma, aus dem wir lernen sollten. Auch wenn uns die Transformation hin zu einer Welt aus 100 Prozent Erneuerbaren Energien gelingt, sollten wir effizienter mit der Energie umgehen, die uns zur Verfügung steht. Denn auch Erneuerbare Energien sind mit Umweltrisiken verbunden. Mal abgesehen davon, dass der Wandel unserer Energiesysteme schneller erfolgen wird, wenn die Zielmarke – unser Verbrauch an Energie – sinkt.
Was hatte die Ölindustrie in der Vergangenheit mit der Kohleindustrie zu tun? Was die Autoindustrie mit einem großen Energieversorger? Nicht viel. Nun deutet sich aber an, dass das Energiesystem der Zukunft weitaus mehr durch Strom dominiert sein wird als in der Vergangenheit und ganze Industriezweige entweder komplett Teil der Stromwirtschaft werden (wollen) oder sich zumindest annähern. Die Auswirkungen dieser Entwicklung wären gigantisch. Sechs der zehn umsatzstärksten Unternehmen der Welt sind heute Öl- und Gasunternehmen, nur eins kommt aus der Stromwirtschaft. Wenn die Bereiche „Transport“ und „Wärmeerzeugung“ der weltweiten Volkswirtschaft zukünftig auf (erneuerbarem) Strom basieren werden und nicht mehr auf Öl und Erdgas, eröffnen sich für Stromkonzerne gewaltige neue Absatzmärkte. Auch ergeben sich aus der Sektorenkopplung technologische Vorteile, etwa um der schwankenden Stromerzeugung aus Photovoltaik und Windkraft zu begegnen – etwa mit Power-to-Gas-Anlagen oder den Batterien von E-Autos.
Nicht mehr die Herrschaft über Raum und die Lizenz zur Extraktion ist entscheidend, um Energie zu produzieren, sondern der Besitz und die Beherrschung von kleinteiliger, verhältnismäßig günstiger Technologie. Eine PV-Anlage können Sie heute bei IKEA kaufen. Energiegenossenschaften betreiben gemeinsam Windparks. Das ist der Albtraum der Energiekonzerne, wie schon oft bemerkt. Die Besitzstruktur an der Energieerzeugung wird also weitaus pluralistischer sein als in der Vergangenheit, in Deutschland ist sie es heute schon zunehmend. Einkäufer werden zu Verkäufern und zu Selbstversorgern. Machtmonopole werden über den Lauf der Zeit geringer. Mehr Menschen profitieren von den (heute) üppigen Margen der Energieerzeugung.
Die Importabhängigkeit der Staaten, die in der Vergangenheit das Pech hatten, nicht auf Öl, Kohle oder Erdgas zu sitzen, wird sinken, da die Sonne auf jedes Land der Welt scheint und auch der Wind überall weht. Damit sinkt auch die außenpolitische und diplomatische Abhängigkeit der heutigen Energieimporteure – und nebenbei sinken in den Importländern die volkswirtschaftlichen Kosten für die Bereitstellung von Energie. Wenn es so etwas wie einen Nachfolger des Petrostaats geben wird, so werden dies voraussichtlich Länder sein, die über exorbitant gute Standorte und freie Flächen für Solarenergie und Windkraft verfügen, um anschließend entweder direkt Grünstrom oder auch Wasserstoff zu exportieren. Oder es werden die Länder sein, die über die Rohstoffe verfügen, die für Photovoltaikanlagen und Batterien nötig sind. Die geopolitisch neuralgischen Punkte der Energieversorgung sind vielleicht schon bald nicht mehr Großkraftwerke oder die Meerengen, durch die Erdöltanker fahren, sondern die Stromnetze selbst. Denn sie sind das einzige Element in einem dezentralen Energiesystem, das mit großen Systemschäden zumindest temporär außer Gefecht gesetzt werden kann.
Etwa ein Fünftel des Welthandels wird heute vom Handel extrahierter Kohlenwasserstoffe ausgemacht. Fällt die Nachfrage nach Öl, Kohle und irgendwann vielleicht auch Erdgas, entstehen gewaltige Lücken in den Bilanzen der heutigen Förderer von Rohstoffen zur Energiegewinnung. Die bereits getätigten Investitionen in Exploration, Extraktion, Transport, Weiterverarbeitung oder Verbrennung von konventionellen Energieträgern müssen dann zunehmend abgeschrieben werden. Im Übergangszeitraum ist daher die Gefahr von Spekulationsblasen hoch, in diesem Fall von Kohlenstoffblasen („Carbon Bubbles“).
Die Transformation unseres Energiesystems erfordert auch eine ziemlich radikale Änderung der Art und Weise, wie wir diesen Wandel angehen. Historisch gesehen ist die Energiewirtschaft eine konservative Industrie - sie denkt in sehr langen Investitions- und Entwicklungszyklen, bewegt sich nicht, bevor nicht jeder Schritt des Prozesses (des Baus neuer Kraftwerke, der Erschließung neuer Energiequellen usw.) von Ingenieuren und Betriebswirten gleichermaßen geplant und getestet wurde. Der Weg zu einer vollständigen Energiewende in den Bereichen Strom, Verkehr, Industrie und Wärme ist nicht nur ein gigantisches Unterfangen. Es ist auch eines, das aufgrund der verheerenden Folgen des Klimawandels unglaublich schnell umgesetzt werden muss. Dies erfordert eine Denkweise, die für die Energiewirtschaft eher neu ist: work in progress. Wir kennen noch nicht alle präzisen Antworten auf die oben dargelegten Herausforderungen, aber wir haben nicht die Zeit, auf endgültige Antworten zu warten, bis wir den Wandel in Angriff nehmen. Wichtiger noch: Wir müssen noch nicht alle Antworten haben. Es wird ohnehin (mindestens zwei bis drei) Jahrzehnte dauern, bis die gesamte Infrastruktur, die transformiert werden muss, umgebaut ist. Und die meisten der Technologien, die dazu wahrscheinlich eingesetzt werden, sind modular, kombinierbar und aufgrund ihrer vergleichsweise geringeren Größe schnell skalierbar. Der Bau eines thermischen Kraftwerks dauert nun einmal wesentlich länger als der eines Windparks. Verstehen Sie mich nicht falsch, es wäre besser, alle Zeit der Welt zu haben, um das Ganze bis zum letzten Stein voraus zu planen. Aber da wir diese Zeit nicht haben, sollten wir direkt aufs Tempo drücken.
Bei allem Gezerre um die Transformation unseres kohlenwasserstoffbasierenden Energiesystems hin zu einem auf Erneuerbaren Energien basierenden System vergessen wir im Kleinklein manchmal die Dividende dieser Transformation. Sie ist vor allem die Bewahrung eines lebenswerten und (menschen)lebensfähigen Planten, indem wir mit dem Umstieg auf CO2-neutrale Technologien die Erderwärmung stoppen. Aber nicht nur. Die Luftqualität wird sich erhöhen und zehntausende oder gar hunderttausende Todesopfer jährlich vermeiden. Der Zugang zu Elektrizität wird vielen Menschen ermöglicht, die heute noch keinen Zugang haben. Kriege um Rohstoffe werden abnehmen. Wir werden vorbereitet sein auf den Zeitpunkt, an dem die Vorkommen fossiler Rohstoffe erschöpft sein werden. Anders herum gesagt: Auch unser Umgang mit Risiken, an die wir uns entweder gewöhnt haben oder deren Dringlichkeit wir erst gerade zu verstehen beginnen, wird sich verändern. Denn wir werden diese Risiken signifikant senken oder im besten Fall schlichtweg eliminieren.
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