Am 22. Juni 2020 schrammte Polen sehr nah an landesweiten Stromausfällen vorbei: Dem polnischen Stromnetz fehlten als Spitzenwert rund 13 Gigawatt an Strom. Die Regelenergiepreise erreichten Rekordniveau – das System kam an seine Grenzen.
Eigentlich war es ein ganz normaler, frühsommerlicher Montag in Polen – bis eine Abfolge von unvorhergesehenen Zwischenfällen die größtenteils kohlegefeuerte Beschaulichkeit unterbrach. Eine ganze Reihe von Kraftwerken, darunter die größten Stromerzeugungskomplexe des Landes, meldeten Total- oder Teilausfälle ihrer Erzeugungskapazitäten: In Bełchatów, Opole, Kozienice, Połaniec, Włocławek und einigen anderen Kraftwerken brach die Stromerzeugung um rund sieben Gigawatt ein – für den Tag waren bereits sechs Gigawatt an geplanten Ausfällen angemeldet worden. Diese fehlenden sieben Gigawatt machten am 22. Juni ein Drittel des gesamten polnischen Strombedarfs von 21 Gigawatt aus – der polnische Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) Polskie Sieci Elektroenergetyczne (PSE) geriet erheblich unter Druck und musste schnell reagieren, um landesweite Stromausfälle zu verhindern.
Äußerst schnell reagierte auch der polnische Regelenergiemarkt: Am Montag, den 22. Juni schossen die Preise pro MW Regelenergie auf 1280 PLN hoch, rund 285 Euro, fünfmal so hoch wie der Regelpreis von etwa 250 PLN, etwa 55 Euro.
Doch warum traten so viele ungeplante Großstörungen auf? Welche Rolle spielen fossile Energieträger in Polen und wie konnte die polnische Stromversorgung am 22. Juni dennoch gerettet werden? Wir können in diesem Artikel ein paar interessante Antworten auf diese und andere Fragen geben und bereits einen kleinen Erkenntnisvorschuss leisten: Anlagen zur Erzeugung von Strom aus Erneuerbaren Energien gehören nicht zum Kreis der Verdächtigen.
Rund zwei Jahre nach der Klimakonferenz von Katowice gilt nach wie vor „coal is king“ in der polnischen Stromversorgung: 79 Prozent der polnischen Erzeugungskapazität verlassen sich auf Braunkohle oder Steinkohle als Brennstoff. Das Hauptargument für diese nicht nur aus Klimaschutzgründen wenig zeitgemäße Politik ist die Erhaltung heimischer Arbeitsplätze in der Kohleindustrie. Diese stellt gemeinsam mit der Kirche und den konservativen Parteien einen maßgeblichen sozialpolitischen Faktor dar, jährlich fließen 400 Millionen Euro pro Jahran Subventionen in die unwirtschaftlich gewordenen oberschlesischen Kohlebergwerke. Der Bedarf der heimischen Kraftwerke wird zudem nicht nur aus teurer heimischer Kohle, sondern auch mittels russischer Kohle minderer Qualität gedeckt – insbesondere durch hohe Schwefelgehalte sorgt der billigere Importbrennstoff für große technische Probleme.
Der Platzhirsch unter den polnischen Kraftwerken, der gigantische Kraftwerkskomplex Bełchatów nahe Łódź, ist nicht für diese Politik, sondern auch für deren fatale Konsequenzen beispielhaft: Seit seiner Gründung 1981 hat sich Bełchatów zum größten Braunkohlekraftwerk der Welt entwickelt. Der CO2-Ausstoß beträgt 30 bis 40 Millionen Tonnen pro Jahr – mehr als Irland oder die Slowakei als komplette Länder ausstoßen. Die 5,4 Gigawatt installierter Leistung von Bełchatów machen an einem heißen Sommertag mehr als ein Fünftel des polnischen Strombedarfs von (24,14 Gigawatt) aus. Mit anderen Worten: Wenn dieser Gigant niest, hat das polnische Stromnetz einen Schnupfen. Die Probleme vom 22. Juni entstanden jedoch nicht nur in Bełchatów – die Unterversorgung entstand durch eine ganze Kette von Störfällen in regionalen Großkraftwerken.
Um die Ereignisse im polnischen Stromnetz vom 22. Juni 2020 zu verstehen, reicht es nicht aus, nur auf ein Kraftwerk allein zu blicken. Wir versuchen daher an dieser Stelle, die Entstehung zumindest eines Teils der Stromlücke von etwa sieben Gigawatt anhand von Presseartikeln und Fachartikeln nachzuvollziehen. Die nachfolgende Liste ist nicht vollständig, liefert aber Erklärungen für zumindest 4,2 Gigawatt an ausgefallener Stromerzeugungskapazität. Deutlich wird vor allem die Verletzlichkeit eines vornehmlich auf fossilen Energieträgern basierenden Stromsystems aus zentralisierten Großkraftwerken.
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 2020 kam es in der Region Łódź zu starken Regenfällen. Diese Regenfälle überfluteten eine der gigantischen Aufkohlungshalden des Kraftwerks Bełchatów und unterbrachen so die Kohleversorgung für die Kraftwerksblöcke 5,6,7 und 8. Mit dem Auslaufen der Turbinen aus Mangel an Dampf gingen 1.500 MW der Nominalleistung des Kraftwerks vom Netz.
Im Kraftwerk Kozienice kam es am 22. Juni zu wetterunabhängigen technischen Schwierigkeiten: Einer der alten Kraftwerksblöcke aus den 1980er Jahren mit 500 MW installierter Leistung musste abgeschaltet werden, anschließend auch der neue Block B11 mit einer installierten Leistung von 1.075 MW. Laut Informationen der polnischen Energiefachpublikation Wysokienapieciewaren diese Abschaltung auf eine Lieferung nasser Kohle zurückzuführen, ein Sprecher des Kraftwerks hingegen gab sehr allgemein „technische Probleme“ als Grund für die Abschaltung an. Was auch immer die Abschaltung verursachte: Dem polnischen Stromnetz fehlten nun zusätzliche 1.575 MW.
Im modernen Kohlekraftwerk in Opole, etwa 100 Kilometer von Katowice in Oberschlesien gelegen, fiel in Block 5 die Rauchgasentschwefelungsanlage aus. Durch die hohe Schwefelbelastung der russischen Importkohle mussten die Betreiber den Block für die Einhaltung der Grenzwerte herunterfahren. Weitere 900 Megawatt wurden dem Stromnetz entzogen.
Im Kontrollraum des Kraftwerks Dolna Odra, nahe der Oder in der Region Westpommern gelegen, stellte der Kontrollraum ein Dampfdruckleck in Block 8 fest. Nach dem Herunterfahren des Blocks fehlten zusätzliche 230 MW.
Polen erlebte am 22. Juni zwar keinen wirklichen landesweiten Blackout, war aber nahe dran. Die Häufung der Störfälle setzte das polnische Stromsystem unter erheblichen Stress, ohne Hilfe aus dem Ausland hätte die Stromversorgung nicht aufrechterhalten werden können. In ziemlicher Hektik musste der Übertragungsnetzbetreiber PSE rund 3.000 Megawatt an Strom aus Schweden, Deutschland, Tschechien, der Slowakei und Litauen importieren. Zusätzlich setzte die PSE die „kalte Reserve“ in Marsch; alte, unwirtschaftliche Kohlekraftwerke, die für Krisenfälle wie diesen in Bereitschaft gehalten werden, starteten die Turbinen und Verbrennungsöfen. Nicht zuletzt schafften 640 MW an erneuerbarem Photovoltaikstrom, geliefert zwischen 10 Uhr und 16 Uhr nachmittags, entscheidende Abhilfe.
Regelenergie ist bekanntlich immer dann gefragt, wenn Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage im Stromnetz ausgeglichen werden sollen. Um eine schnelle Lieferung je nach Bedarf zu garantieren, wird sie auch in Polen an einem speziellen Markt gehandelt. Hier beträgt der normale Preis für ein Megawatt Regelenergie 250 PLN, was rund 56 Euro entspricht. Am 22. Juni 2020 hingegen schoss der Preis um 9:00 Uhr auf den Rekordwert von 1289,94 PLN, rund 292 Euro – allein beim Anblick des Preisverlaufs auf dem Regelenergiemarkt erschloss sich schon, dass es im Stromnetz offensichtlich gewaltige Probleme gab.
Die Preisexplosion kann daher sehr einfach erklärt werden: Es war zu wenig Strom im Netz, in so einem Fall wird positive Regelenergie eingesetzt – am 22. Juni ging der Markt „all-in“, es fand ein Vollabruf statt. Nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage wurde so ein ansonsten komfortabel verfügbares Produkt plötzlich sehr knapp – der Preis pro Verkaufseinheit (1 MW) verfünffachte sich.
Doch warum sackte der Preis dann so schnell wieder ab? Hierfür sind die greifenden Maßnahmen der PSE verantwortlich: Als absehbar war, dass die Regelenergie zur Netzstabilisierung nicht ausreichen würde, kaufte der ÜNB Strom im Ausland zu, aktivierte die Kaltreserve und wies Industriebetriebe an, große Verbrauchslasten vom Stromnetz zu nehmen. In der Folge sank der Regelenergiepreis verhältnismäßig schnell wieder auf Normalniveau.
Es ist ein ebenso landläufiges wie überholtes Paradigma der Energiewirtschaft: Erneuerbare Energien fluktuieren und gefährden die Versorgungssicherheit, die fossilen Großkraftwerke liefern 365 Tage im Jahr zuverlässig und stabil Strom. Wir als Unternehmen haben dies noch nie geglaubt und sehen uns daher in den Ereignissen vom 22. Juni, die in einem hochgradig fossil dominierten Strommarkt auftraten, mehr als bestätigt. Nicht erst seit unserem Artikel zum durch zentralisierte Energiesysteme mit Großkraftwerken steigenden Klumpenrisiko weisen wir auf die Probleme hin, die eine Energieversorgung auf Basis gigantischer Kraftwerkskomplexe wie Bełchatów verursachen. Ein Stromsystem mit einer Vielzahl kleiner, aber vernetzter und flexibler Stromerzeuger ist gegenüber Krisen und Naturkatastrophen deutlich resilienter – das Prinzip des dezentralen Internets macht es vor.
Um dezentrale Energieversorgungssysteme zu realisieren, bieten sich Virtuelle Kraftwerke als eine ebenso kosteneffiziente wie nachhaltige Lösung an. Anstelle riesige Industriekomplexe mit verheerenden ökologischen Schäden vor Ort und für das Klima zu bauen, lassen sich die digital vernetzten Kleinkraftwerke zentral steuern und übernehmen automatisch bei Störfällen einzelner Anlagen die Last der anderen. Kleinere, vernetzte Anlagen lassen sich auch deutlich schneller modernisieren und den Erfordernissen der Zeit anpassen. Schließlich haben Megakomplexe wie das ehemalige sozialistische Kraftwerkskombinat Bełchatów von 1981, gebaut in einer völlig anderen Zeit, nicht nur Probleme mit nassen Kohlebunkern, sondern auch äußert unzeitgemäße Abgaswerte.
Ein Stromversorgungssystem, dass zu wesentlichen Teilen oder sogar vollständig aus Erneuerbaren Energien besteht, muss sich Bedingungen wie Wetteränderungen und Lastwechseln flexibel anpassen können. Dies kann zum einen durch eine flexible Anpassung der Erzeugungsanlagenleistung, des Stromverbrauchs und den Einsatz von Speichern geschehen – darüber hinaus braucht aber jedes moderne Stromsystem einen Ausgleich in Form von Regelenergie. Um die Netzfrequenz dauerhaft stabil zu halten, sind kleine Korrekturen bei Ausfällen oder Unregelmäßigkeiten via Regelenergie unbedingt notwendig.
Auch Polen hat sich nun einen freien Regelenergiemarkt erschlossen; die Wichtigkeit und auch die Erlösmöglichkeiten dieses Marktes kommen in den Ereignissen vom 22. Juni deutlich zum Ausdruck. Wer eine flexible Anlage zur Stromerzeugung besitzt, beispielsweise ein BHKW mit oder ohne Biogasanlage, kann an diesem Markt teilnehmen. Über ein Virtuelles Kraftwerk mit dem Regelenergiemarkt verbunden kann so, in Zeiten nationaler Notstände, ein echter Beitrag für die Stromversorgung der Landsleute geleistet werden.
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