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Lesedauer: 6 min.
von Kerstin Eiwen, Christian Sperling / 29 März 2019
Das Team Innovation & Development auf ihrer Japanreise

Next Stop: Japan

Unsere neue Blogserie berichtet von den Strommärkten der Welt: Den Anfang machen Alexander Krautz und Tobias Romberg mit einem Interview zu ihrer Reise nach Japan.

Japan begegnet, speziell in der Energiewirtschaft, vielfältigen Vorurteilen. Wir haben daher die Chance genutzt, uns einmal vor Ort und mit eigenen Augen zu informieren, Konzepte zu diskutieren und Entscheidungsträger kennenzulernen. Alexander Krautz und Tobias Romberg aus dem Team Innovation & Development von Next Kraftwerke konnten sich nun vor Ort im Firmenauftrag ein Bild machen und möchten dies in diesem Interview teilen.

Christian Sperling: Worin bestehen die Besonderheiten des japanischen Stromsystems? Was unterscheidet das dortige Stromsystem von unserem?

Alex Krautz: Das japanische Strommarktsystem ist prinzipiell so strukturiert wie bei uns vor zehn, fünfzehn Jahren. Wir haben vertikal integrierte Utilities, also große Stromversorger, die nicht nur Strom produzieren, sondern auch das Stromnetz besitzen und betreiben. Es gibt insgesamt zehn große Versorger, die nicht nur Übertragungsnetzbetreiber, sondern auch Verteilnetzbetreiber und Stromlieferanten sind. 
Bei der Strombelieferung hat der Markt sich bereits ein bisschen geöffnet, hier können auch kleinere Unternehmen zum Zug kommen. In den anderen Bereichen, insbesondere beim Stromnetz, noch nicht.

Christian Sperling: In Japan hat also noch kein Unbundling, die Trennung von Netz und Stromproduktion, stattgefunden?

Alex Krautz: Unbundling steht jetzt an. Es gibt einen Fahrplan der Regierung für die Trennung von Netz und Stromproduktion, auch eine Öffnung der Märkte wird angestrebt. Darauf bereiten sich derzeit viele Unternehmen vor, nicht nur die Versorger, auch andere Unternehmen sehen hier Geschäftsmöglichkeiten.

Christian Sperling: Wie sieht es denn mit den Teilmärkten im Stromhandel aus? Gibt es einen Intradayhandel, einen Day-Ahead-Handel wie bei uns? Gibt es überhaupt eine Strombörse?

Alexander Krautz: Gibt es, die Märkte sind aber nicht mit den sehr liquiden Märkten in Deutschland mit den kurzfristigen Gebotsmöglichkeiten vergleichbar. Das Handelsvolumen ist geringer, langfristige, außerbörsliche Kontrakte bestimmen den Handel.

Tobias Romberg: Einen Day-Ahead gibt es schon, der auch durchaus liquide ist. Der Intradayhandel ist hingegen nicht besonders lebhaft, das liegt vor allem an dem Ausgleichsenergiepreissystem und den damit verbundenen niedrigen Kosten. Es gibt daher nur geringe Anreize, Bilanzkreise ernsthaft zu bewirtschaften.

Christian Sperling: Wie sieht es aus mit dem Regelenergiemarkt? Kennt die japanische Energiewirtschaft die in Europa übliche Aufteilung in Primär-, Sekundär- und Tertiärregelleistung?

Alex Krautz: Es gibt Regelenergieprodukte – aber keinen wirklichen Markt. Diesen möchte die Regierung jedoch jetzt einführen, auch in der bei uns üblichen Aufteilung in PRL, SRL und MRL. Allerdings hat das japanische Netz andere Anforderungen als unseres, die Ausgestaltung der Produkte wird daher etwas anders sein als in Europa üblich.

Christian Sperling: Japan ist nun in energiewirtschaftlicher Hinsicht leider vor allem durch Fukushima bekannt. Hat die Katastrophe einen Schub für die Erneuerbaren Energien gebracht?

Alex Krautz: In den letzten Jahren gab es einen sehr starken Zubau im Photovoltaikbereich, insbesondere auf Kyushu und im Süden von der Hauptinsel Honshu. Etwa 55 Gigawatt installierte Leistung an Photovoltaik sind dort errichtet worden. Dies hat bereits auf Kyushu vermehrt zu Netzausgleichproblemen geführt, da der dort erzeugte Solarstrom nicht vom Stromnetz aufgenommen werden konnte – ein wirklich organisiertes Einspeisemanagement wie bei uns gibt es in Japan nicht. Interessant ist auch, dass vor etwa zehn Jahren noch so gut wie gar keine Photovoltaik installiert war.
Windenergie gibt es in Japan eher wenig, dies bedingt sich zum einen durch die hohe Siedlungsdichte und zum anderen durch die steilen Küstengebiete. Die Küsten Japans sind dicht besiedelt, Abstände zu Windkraftanlagen können daher nur an wenigen Orten eingehalten werden. 
Ein grundsätzliches Problem beim Ausbau Erneuerbarer Energien in Japan ist auch: Möchte ein Betreiber beispielsweise einen Windpark errichten, ist er für die zusätzlich benötigte Aufnahmekapazität des Netzes mitverantwortlich. Er muss also einen Beitrag für die Netzerweiterung zahlen – diese Kostenstruktur macht viele Projekte von vorn herein maximal unwirtschaftlich und sehr schwierig zu finanzieren.


Christian Sperling: Der japanische Staat hält sich also aus dem Ausbau der Erneuerbaren Energien weitgehend heraus?

Alex Krautz: Es gibt eine fixe Einspeisevergütung, ein Marktprämienmodell oder anderweitige Möglichkeiten zur Direktvermarktung existieren aber nicht. Die fixe Einspeisevergütung muss auch die bereits beschriebenen Netzausbaukosten decken – das wäre in Deutschland unvorstellbar. Bei uns besteht sozusagen ein Anspruch auf Netzzugang und der Netzbetreiber muss den Ausbau übernehmen.

Christian Sperling: Wie hoch ist denn der Anteil an Erneuerbaren Energien in der japanischen Stromversorgung?

Tobias Romberg: 2018 waren es etwa 15 Prozent, die japanische Regierung plant bis 2030 eine Steigerung auf 22 bis 24 Prozent.

Christian Sperling: Was könnten Virtuelle Kraftwerke zum Ausbau und zur Modernisierung des japanischen Stromsystems beitragen?

Alex Krautz: Japan sieht definitiv die Notwendigkeit von Virtuellen Kraftwerken für das Forecasting, das Monitoring und das Steuern von dezentralen erneuerbaren Anlagen. Deswegen sind gerade viele japanische Energieversorger auf der Suche nach tragfähigen VPP-Lösungen, auch als VPP-as-a-Service wie mit NEMOCS. Next Kraftwerke wird in Japan beispielsweise vom japanischen Wirtschaftsministerium METI als Best-Practice Beispiel genannt, was uns vielfältige Kontakte eröffnet.

Christian Sperling: Insbesondere flexible, witterungsunabhängige Energieträger wie Biogas bieten sich für den Aufbau Virtueller Kraftwerke an. Ist Biogas in Japan verbreitet?

Alex Krautz: Nicht sehr. Es gibt auf der nördlichen Insel Hokkaido recht viel Landwirtschaft und daher auch einige Biogasanlagen, diese ließen sich gut in Virtuellen Kraftwerken vernetzen. Interessant sind vor allem Forecasting und Einsatzplanung von dezentralen Energieträgern.
Generell gibt es, vor allem aufgrund der permanenten Erdbebengefahr, eine klare Tendenz zur Dezentralisierung in der Energieversorgung, um die immer wieder vorkommenden Blackouts durch Ausfälle von Großkraftwerken zu vermeiden. Für diese strategische Dezentralisierung bietet sich natürlich der Einsatz von Virtuellen Kraftwerken mit seinen Forecastingmöglichkeiten an – so kann eine regionale und überregionale Versorgungssicherheit aus Notstromaggregaten, Generatoren und Speichern auch in größeren Katastrophenfällen sichergestellt werden.

Christian Sperling: Das heißt: Großkraftwerke und insbesondere Atomkraftwerke haben auch in Japan keine große Zukunft mehr?

Alex Krautz: Das würden wir uns sicherlich wünschen – aber Japaner sind eher traditionell konservativ und vorsichtig bei ihren Entscheidungen, insbesondere wenn es um langfristige strategische Festlegungen geht. Dies ist an sich vernünftig, hemmt aber einen schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien oder von dezentralen Lösungen.

Christian Sperling: Kommen wir einmal zum „bunten Teil“: Habt ihr etwas Besonderes erlebt, was fandet ihr besonders interessant auf eurer Reise?

Tobias Romberg: Japan ist für Geschäftsreisen ein besonders angenehmes Land. Es gab sehr gutes Essen, unsere Gastgeber waren sehr höflich und auf unser mögliches, westliches „Elefant-im-Porzellanladen“-Verhalten gut vorbereitet.

Alex Krautz: Unserer Wahrnehmung nach waren wir aber sehr artig, es sind keine Klagen gekommen.

Christian Sperling: Wie sah es denn mit der speziell in Deutschland vielbeneideten Pünktlichkeit der Züge aus?

Alex Krautz: Der Shinkansen (der japanische ICE) ist wirklich sehr pünktlich und fährt alle zehn Minuten – hat aber auch eine eigene Spur, anders als bei uns. Bei einer Regionalbahn hatten wir aber auch mal 15 Minuten Verspätung. Hier gibt es also keine Unterschiede.

Christian Sperling: Wie sieht es denn ansonsten bei der Mobilität aus? Gibt es eher eine Präferenz für Wasserstofflösungen oder Batterielösungen?

Tobias Romberg: Toyota hat lange auf Hybridfahrzeuge gesetzt, jetzt ist eine Tendenz zu wasserstoffbetriebenen Lösungen erkennbar. Ich habe schon den Eindruck, dass Wasserstoff eine größere Rolle spielt als bei uns, es ist aber weitgehend noch im Showcase-beziehungsweise Forschungsstadium.

Christian Sperling: Gibt es in Japan ähnliche Protestbewegungen zum Klimaschutz wie bei uns? Wie ist das ökologische Bewusstsein ausgeprägt?

Tobias Romberg: Schwer zu sagen, aber auffallend ist, dass es kaum Angebote für Vegetarier oder Veganer gibt, fast alles wird mit Fisch oder Fleisch zubereitet, dies hat natürlich auch klimatische Folgen. Wir haben uns jetzt allerdings auch nicht in alternativen Subkulturen bewegt – ich konnte jedenfalls keine große allgemeine Präsenz einer Klimaschutzbewegung erkennen. 
Auffallend war auch die wenig ausgeprägte Hemmung bei Flugreisen: Auch, wenn mit dem Shinkansen ein exzellentes Hochgeschwindigkeitsbahnsystem existiert, fliegen viele Japaner auch im Inland kurze Strecken zwischen einzelnen Städten ohne wirkliche Zeitersparnis.

Christian Sperling: Wie ist es denn mit der technischen Fortschrittlichkeit in Japan generell? In den 1990ern galt Japan hierzulande ja als absolutes Hightechland, ist das noch spürbar?

Tobias Romberg: Es ist ein bisschen schräg, ehrlich gesagt. Japan ist in vielen Bereichen sehr fortschrittlich, aber manchmal beschleicht einen auch der Eindruck, dass manche Bereiche technologisiert sind um der Technik willen – nur, weil es geht.

Alex Krautz: Stimmt. Nur ein Beispiel: Ist man in einem größeren Unternehmen eingeladen, erhält man eine Einladung mit QR-Code. Damit geht man aber nicht zum Pförtner, sondern zu einem Automaten, der wiederum ein Ticket mit einem neuen QR-Code für das elektronische Drehkreuz ausdruckt. Kompliziert – hat aber reibungslos funktioniert.

Tobias Romberg: Was auch interessant ist: Alle Maschinen reden mit dir, verfügen also über eine Sprachausgabe.

Alex Krautz: Beispielsweise auch beim Essen: In manchen Restaurants wählt man sein Essen anhand von Fotos an einem Automaten aus, an dem man direkt bezahlt und eine Nummer bekommt. Das Essen wird dann an den Tisch gebracht. Funktioniert auch völlig reibungslos – und das Essen sieht interessanterweise immer genau so aus, wie man es auf dem Foto präsentiert bekommen hat.
Auch spannend: Wir sind es gewohnt, kalte Getränke aus einem Kühlregal zu nehmen. In Japan gibt es aber auch Wärmeregale. Da kann man dann einen warmen Kaffee in der Aluflasche bekommen – 24 Stunden am Tag.
 

 

Japans Energielandschaft im Überblick

Stromverbrauch:934 TWh (2016)
Strommix:Kohle 34 %
Öl: 9 %
Erdgas: 39,2 %
Atomkraft: 0,3 %
Wasserkraft: 8,4 %
Windkraft: 0,5 %
Geothermie: 0,3 %
Solar: 3,6 %
Biomasse (inkl. Müll): 4,1 %
Anteil Erneuerbarer Energien:16,9 %
CO2 Einsparungsziel des Pariser Abkommens*:im Energiebereich** um 25 % 
in anderen Sektoren um 6,7 %
 
* für 2030 im Vergleich zu 2013** verantwortlich für etwa 90 % des CO2-Ausstoßes
 
 
Hinweis: Next Kraftwerke übernimmt keine Gewähr für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität der Angaben. Der vorliegende Beitrag dient lediglich der Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung.
Kerstin Eiwen

Kerstin Eiwen

Student Assistant

Christian Sperling

Christian Sperling

Online-Redakteur